Was hat der Bart mit Architektur zu tun? Und sein Fehlen? Vom Sachlichkeitsgehabe.

… und Otto Haesler in Celle

Und statt Rattenfängerweisen mußte er das Largo geigen

Und vor dürren Tantengreisen unter roten Rattenwimpern
Par coeur Kinderszenen klimpern

(„Spiel nicht mit den Schmuddelkindern“, Franz Josef Degenhardt)

Es hat sich viel geändert. Denn die dürren Tantengreise, vor denen man früher das Largo geigen musste, lieben heute Degenhardt. Ganz ähnlich wie die Weimarer Bürger, die früher naserümpfend mit ihrem Goethe durch das Bauhaus zogen, heute das Bauhaus verehren. Denn: es sei ja so unprätentiös.

Worin besteht die Prätentiösität des Bauhauses?  Wenn man zum Beispiel ein Porträtfoto von Walter Gropius aus dem Jahre 1928 betrachtet, sieht man sofort, wie prätentiös unprätentiös ‚das bauhaus‘ war:

Datei:Walter Gropius by Hugo Erfurth, 1928.jpg
Sachlichkeitsgehabe: Gropius 1928 https://de.m.wikipedia.org/wiki/Datei:Walter_Gropius_by_Hugo_Erfurth,_1928.jpg

Seit einigen Jahren sind Bärte in die Mode zurückgekehrt, und einige Verfechter dieser Mode bemühen sich eifrig um Rationalisierung. Bärte machten attraktiver, dienten als Sonnenschutz oder Schutz vor Krankheitserregern u.a.  Nichts davon lässt sich ‚wissenschaftlich‘ belegen. Warum gibt es überhaupt Bärte?

Spektrum.de  Wissen 21.12.2017:

Klar ist also, dass Frauen Bärte auch in Kulturen mit starkem Bartwuchs nicht grundsätzlich attraktiver finden, wie es Darwin angenommen hatte. […] Wie aber konnten sich Bärte in diesen Kulturen dann halten? Eine Antwort deutete sich im zweiten Teil der Studie an. Darin zeigten Dixson und Vasey 111 Männern aus Neuseeland und 119 Samoanern die Bilder mit den aggressiv dreinschauenden Männern. Wieder waren sich die Vertreter beider Kulturen einig: „Die Gesichter empfanden sie durchgehend als aggressiver, wenn diese einen Bart hatten“, schildert Dixson; ein Ergebnis, das in späteren Studien mit anderen Kulturen und mit Frauen als Betrachterinnen repliziert wurde. „Gesichert ist: Mit Bärten werden Männer als aggressiver, maskuliner und dominanter bewertet“, sagt Dixson. […] Warum signalisiert ein Bart überhaupt Dominanz? Verleiht er etwa einen Vorteil, wenn es zu einem Kampf kommt? […] In die Analyse gingen mehrere körperliche Eigenschaften der Kampfsportler ein, darunter die Reichweite, der Stand, die Größe, das Gewicht und der Bart. Am Ende stand fest: Der Bart bringt beim Kampf überhaupt nichts. Die Zahl der K.-o.-Niederlagen, die die Kämpfer erlitten hatten, war nicht mit der Bartlänge korreliert. Der Bart sei „ein unehrliches Signal der Überlegenheit“, schließen die Autoren im Fachmagazin „Evolution and Human Behaviour“ vom November 2017. Oder gibt es vielleicht doch versteckte Hinweise? Dixson vermutet, Bärte würden das wahre Ausmaß der Körperkraft verbergen. Denn zumindest die Ausprägung der typisch männlichen Gesichtszüge, der Stirnwülste, Wangen- und Kieferknochen ist mit der Kraft im Oberkörper korreliert. Ein Vollbart verbirgt den Kieferknochen und lässt den Gegner so ein wenig im Unklaren über die zu erwartende Schlagkraft des Gegners. Eine Studie, die genau das zeige, sei bereits fertig, sagt Dixson, aber noch nicht veröffentlicht.

https://www.spektrum.de/wissen/was-wir-ueber-baerte-wissen-und-was-nicht/1528365

Kurz: Der Bart ist ein Bluff! Er ist sozusagen ein Stück Semiotik in der Natur. Er dient dazu, einen Eindruck zu erwecken, offenbar ohne eine ‚Funktion‘ in einem engeren Sinne zu haben. Eben das teilt er im Kern mit Architektur als kulturellem Phänomen. Denn es gibt keinen ‚Funktionalismus‘ in dem Sinne, dass die Form aus der Funktion folge. So betont Hüter mit Bezug auf den angeblichen ‚Funktionalismus‘ in der klassischen Moderne: „Die Architektur der Avantgarde der zwanziger Jahre war keineswegs ‚sprachlos‘. So kann sie nur demjenigen erscheinen, der in historischer Stilarchitektur befangen ist. Der radikale Purismus auf dem Höhepunkt der Bewegung, der zum Beispiel auf Anwendung des nicht immer praktikablen Flachdachs besteht, könnte sogar als Anzeichen einer doktrinären Überfrachtung des Bauens mit Semiotik begriffen werden.“ (Hüter, Karl-Heinz (1981), „Architektursprache. Semiotik des Neuen. Bauens“. In: Form + Zweck 3: 21-31: Seite 32) Das Wesen von Architektur ist geradezu darin auszumachen, einen Eindruck – welcher Art auch immer – erwecken zu sollen (vgl. Schlaberg, Claus (2014), „Bauwerke sind Bauten, die wirken sollen“. In: Zeitschrift für Semiotik 36: 1-2: 49-77). Die scheinbare ‚Sachlichkeit‘ mancher Architektur ist Sachlichkeitsgehabe. Kultur ist immer prätentiös. Das gilt für Bauwerke wie für Bärte.

… oder deren Fehlen. Der Bluff ist ‚in der Natur‘ fest verankert:

File:Male gorilla in SF zoo.jpg
https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Male_gorilla_in_SF_zoo.jpg

(Vgl. auch Gernot Böhme: „Atmosphäre“, Frankfurt a. M. 1995, darin: „Physiognomie“ S. 101-152.)

Sachlichkeitsgehabe prägte ästhetische Strömungen. Umfasst dieses Merkmal auch eine Art Rationalitätsgehabe? Jedenfalls können Philosophie und Kunst auch in ihrem Selbstverständnis Moden unterliegen, die etwas dieser Art nahelegen: „Wir spüren eine innere Verwandtschaft der Haltung, die unserer philosophischen Arbeit zugrundeliegt, mit der geistigen Haltung, die sich gegenwärtig auf ganz anderen Lebensgebieten auswirkt; wir spüren diese Haltung in Strömungen der Kunst, besonders der Architektur, und in den Bewegungen, die sich um eine sinnvolle Gestaltung des menschlichen Lebens bemühen: des persönlichen und gemeinschaftlichen Lebens, der Erziehung, der äußeren Ordnungen im Großen. Hier überall spüren wir dieselbe Grundhaltung, denselben Stil des Denkens und Schaffens. Es ist die Gesinnung, die überall auf Klarheit geht und doch dabei die nie ganz durchschaubare Verflechtung des Lebens anerkennt, die auf Sorgfalt in der Einzelgestaltung geht und zugleich auf Großlinigkeit im Ganzen, auf Verbundenheit der Menschen und zugleich auf freie Entfaltung des Einzelnen. Der Glaube, daß dieser Gesinnung die Zukunft gehört, trägt unsere Arbeit.“ Das schrieb Rudolf Carnap im Vorwort zur ersten Auflage von „Der logische Aufbau der Welt“ im Jahre 1928, dem Jahr, aus dem die Porträtfotografie von Walter Gropius stammt. Carnaps Worte tragen fast religiöse Züge. Sachlichkeitsgehabe bietet durchaus einen Erklärungsansatz dafür, dass Otto Haesler in Celle mit Bezug auf seine architekturgeschichtlich bedeutsamen Beiträge aus der Zeit der Weimarer Republik nie ästhetische Motive erwähnte, obwohl er zweifellos ästhetische Motive hatte. Vgl.: Die ambitionierten Zielvorgaben des sparsamen Bauens wurden baukünstlerisch in die Formen des „Neuen Bauens“ gebracht, über die Haesler allerdings kein Wort verlor: „Zur Architektur, zur Ästhetik meiner Bauten habe ich nichts Besonderes hinzuzufügen“, um dann zu behaupten: „Auch für mich ergab sich die Form stets aus dem Inhalt“ (Haesler 1957, S. XVII). (Eckart Rüsch in https://denkmalatlas.niedersachsen.de/viewer/objekte/blumlaeger-feld/) Es handelte sich um eine eben nicht rein wirtschaftlich oder anderweitig frei von Schönheitserwägungen begründete Ästhetik, deren typische Formen ohnehin weder im Rahmen sozialen Wohnungsbaus noch im Rahmen von Industriearchitektur entstanden. Entsprechend emphatisch wurde dieser Zeitgeist vertreten und rationalisiert.

Man denke etwa an Le Corbusiers ‚Gedicht vom rechten Winkel‘. Eine Rezension der Ausgabe von Winfried Nerdinger und Juan Calatrava (Hg.): Le Corbusier und das Gedicht vom rechten Winkel, Hatje Cantz 2012, stellt fest: Der Materialienband […] präsentiert, reich illustriert, vier kenntnisreiche Aufsätze, von denen diejenigen der Herausgeber Winfried Nerdinger und Juan Calatrava die wichtigsten und substanziellsten sind. In ihnen wird die geistige Entwicklung Le Corbusiers skizziert und die vielfältige, ohne Vorkenntnisse undurchschaubare Symbolik der Bilder wie des Gedichtes erläutert. In den Worten Juan Calatravas besteht die »Vollkommenheit des rechten Winkels […] vor allem darin, das geometrische Ergebnis des horizontalen und vertikalen Zusammentreffens zweier fundamentaler Gesetzmäßigkeiten zu sein.« Wirklich? Tatsächlich zweier Gesetzmäßigkeiten, nicht etwa bloß zweier Linien? Ob derart im Grunde ziemlich banale Gedanken tragen, hängt allein davon ab, ob die Qualität der Bilder sowie die Schönheit und der Rhythmus der Worte den Leser gefangen nehmen können. Das Gedicht stellt den ambitionierten Versuch eines weltbekannten Architekten dar, seine Weltanschauung in Bildern und Texten zu visualisieren, und die vier Essays kommentieren diese höchst kenntnisreich; aber die Tatsache, dass es sich weder um philosophische Einsichten noch um wissenschaftliche Lehre, sondern um nichts als um eine Privatmythologie handelt, wird an keiner Stelle berührt. (https://www.portalkunstgeschichte.de/meldung/winfried_nerdinger_juan_calatrava__hg____le_corbusier_und_das_gedicht_vom_rechten_winkel__hatje_cantz_2012-5171.html)

http://www.smow.de/blog/wp-content/uploads/2016/11/Bauhaus-Dessau-Bomb-1945.jpg

https://www.faz.net/aktuell/wissen/leben-gene/grundkurs-in-soziobiologie-15-angeberei-als-hochkultur-1383549.html?printPagedArticle=true#pageIndex_3

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