Politische Korrektheit von rechts?

„Politische Korrektheit“ jedenfalls, verstanden als Einschränkung des Gebrauchs sprachlicher Mittel aufgrund politischer Rücksichtnahmen, ist keineswegs ein bloß „linkes“ Phänomen. Dafür liefert die Duden-Kritik der AfD einen weiteren Beleg. (http://www.hassrede.de/duden-kritik-politische-korrektheit-von-rechts.html am 07.02.21)

Die (v.a. seit der Corona-Krise zahlreicher gewordenen) Dummheiten der AfD sollen hier nicht Thema sein. Der Verfasser des Zitats dürfte der im Impressum der zitierten Seite angegebene Prof. Joachim Scharloth sein. Scharloth schreibt über etwas, das er ‚politische Korrektheit von rechts‘ nennt. Ist man auch politisch korrekt von rechts, wenn man das Phänomen, das die Einrichtung von Celle – die freie Seite im Wesentlichen motiviert hat, beklagt?

Es geht um Folgendes:

Referenz

Wenn ich auf etwas oder jemanden Bezug nehme, werde ich praktischerweise einen Namen verwenden oder eine Charakterisierung. Ich werde zum Beispiel auf John mit dem Namen John (oder irgendeinem Namen, dessen Verwendung von anderen verstanden zu werden verspricht) Bezug nehmen oder aber mittels einer charakterisierenden Beschreibung wie der Dicke da drüben. Ob ich mit meiner Bezugnahme durch einen Namen oder eine Charakterisierung von anderen verstanden werde, hängt von verschiedenen Faktoren ab: davon, dass die anderen wissen, wen ich mit John meine (unabhängig davon, ob er überhaupt John heißt); bzw. davon, ob die anderen wissen, wen ich für dick halte, oder von wem ich glaube, dass die anderen ihn für dick halten oder dass die anderen glauben, dass ich ihn für dick halte, oder dass die anderen glauben, dass ich glaube, dass sie ihn für dick halten, … (unabhängig davon, ob er dick ist). Je nach meinen Absichten ist eine Bezugnahme ihrerseits auf John erforderlich, damit die anderen verstehen, wen ich meine. Sie sollen glauben, auf denjenigen Bezug zu nehmen, den ich mit John bzw. mit der Dicke da drüben meine. Je nachdem, ob derjenige, den ich meine, John heißt, oder auf ihn zutrifft, ein Dicker da drüben zu sein, ist meine Bezugnahme – in der linguistischen, semiotischen oder philosophischen Fachliteratur „Referenz“ genannt – mit John bzw. der Dicke da drüben auf ihn korrekt oder nicht korrekt. Wenn ich mit der Präsident der USA im Jahre 2019 auf Donald Trump Bezug nehme – im Fachjargon: referiere – ist die Referenz auf Trump, den Referenten, korrekt. Wenn ich mit meine Großtante in Hannover auf Trump referiere, ist die Referenz nicht korrekt, denn Trump ist nicht meine Großtante und wohnt nicht in Hannover. (Dennoch kann diese inkorrekte Referenz für jemanden verständlich sein, der – aus welchen Gründen auch immer – weiß, wen ich damit meine.)

Von Interesse ist hier im Folgenden nun die Korrektheit von Referenz mit Hilfe von Charakterisierungen. Natürlich können Charakterisierungen, mit denen referiert wird, auch wertend sein. Zum Beispiel wird der irre Chef abwertend gemeint sein, da es heute keinen nicht wertenden Gebrauch von irre geben dürfte. Aber um Wertung soll es hier im Folgenden gar nicht gehen.

Inwiefern Flüchtling eine wertende Charakterisierung ist, ist häufig thematisiert worden. Statt Flüchtling wird von vielen und immer mehr Geflüchteter oder Geflüchtete verwendet. Hier soll es nur darum gehen, inwiefern sich ein Wort, das mit <flucht> gebildet wird und damit die Referenten jeweils korrekt charakterisieren soll, für korrekte Referenz eignet und welche Rolle das für freien Diskurs in einer Demokratie spielt.

Oftmals wird dazu bemerkt, Flüchtling sei in Deutschland jemand, dem vom BAMF dieser Status zugesprochen wurde. Dazu ist zu bemerken: Von der amtlichen Zuschreibung ist die alltagssprachliche Charakterisierung zu unterscheiden. Die amtliche Zuschreibung und die alltagssprachliche Charakterisierung sind nicht unabhängig voneinander. Sprechakttheoretisch fällt die amtliche Zuschreibung unter Deklarationen. Sie ist darin vergleichbar mit einer Heiligsprechung durch den Papst: Indem der Papst jemanden heilig spricht, wird er (der heilig Gesprochene) heilig. Allerdings ist es wohl nicht ganz unangemessen, eine Zuschreibung des Flüchtlingsstatus auch an Korrektheitsbedingungen alltagssprachlicher Charakterisierung zu binden. Denn anders als zum Beispiel bei einer Heiligsprechung soll die Zuschreibung des Flüchtlingsstatus wohl auch eine schon bestehende Realität widerspiegeln und diese nicht erst erschaffen. Sie ist darin vergleichbar mit einem Schiedsrichterurteil: Der Schiedsrichter entscheidet, ob eine Handlung ein Foul war. Man kann seine Entscheidung dennoch hinterfragen. Dass Horst der Mann von Eva ist, kann man nicht bestreiten, wenn entsprechende Amtshandlungen vorgenommen worden sind. Flüchtling ist nun ein alltagsspachlich gut verständliches Prädikat. Flüchtling ist jemand, der nicht ganz freiwillig von A nach B gegangen ist, sondern in A Leid zu erwarten hätte. Leid welcher Art dabei relevant ist, ist wiederum sowohl alltagssprachlich zum einen als auch, was den zugesprochenen Status betrifft, amtlich zum anderen begründet. Jemand, dem in A nicht alljährlich eine staatlich finanzierte Geburtstagsparty zusteht, hat dadurch noch keinen Grund zur Flucht. Er könnte aber einen Grund zur Migration von A nach B haben: Wer, warum auch immer, seinen Lebensmittelpunkt von A nach B verlegt, migriert. Wichtig ist nun, dass eine Migration auch eine Flucht sein kann. Flucht ist Migration. Aber Migration ist nicht unbedingt Flucht. Das entspricht, etwas vereinfacht ausgedrückt, einem gängigen Verständnis von Migration und Flucht, nach dem Flucht eine Art Migration ist.

Besonders zu betonen ist, dass der Fluchtcharakter einer Migration ggf. graduell ist. Eine bestimmte Migration ist jeweils mehr oder weniger Flucht. Die Wege können verworren sein, und natürlich sind für die Einschätzung eines Fluchtcharakters einer Migration auch Alternativen, die bestanden, zu berücksichtigen. In den letzten Jahren vor der 2015-Migration sind zudem bestimmte Faktoren relevanter geworden. Kommunikation von Migranten untereinander ist einfacher geworden. Verlockende Botschaften werden gesendet und empfangen. Und mancher erfuhr 2015 erst an der türkischen Küste, dass für ihn eine Überfahrt in einem Schlauchboot (das sich erst während der Fahrt als undicht erwies) vorgesehen war. Man wusste also gar nicht unbedingt, welche Risiken zu berücksichtigen waren.

Für die Frage, woran die Berechtigung, in B zu bleiben, geknüpft werden sollte, sollte nun nicht nur eine Rolle spielen, ob und in welchem Maße eine Migration eine Flucht ist, sondern auch: welche Auswirkungen ein Angebot, in B zu bleiben, auf die Migrationsbereitschaft hat. Und: ob und in welchem Maße jeweils überhaupt der Fluchtcharakter einer Migration und sein Ausmaß eingeschätzt werden können.

Die Prädikate Migration und Flucht sind für die Referenz auf ein Ereignis jeweils mehr oder weniger korrekt. Dementsprechend sind Migrant und Flüchtling jeweils für die Referenz auf eine Person mehr der weniger korrekt. Wenn Flucht bzw. Flüchtling korrekt sind, sind Migration und Migrant jeweils mehr der weniger korrekt – aber nicht umgekehrt. Man kann nun erwägen, angesichts der ungeheuren Schwiergkeiten, den Fluchtcharakter einer Migration einzuschätzen, überhaupt darauf zu verzichten, das Angebot, in B zu bleiben, an eine Einschätzung zu knüpfen. Man könnte Einwanderung liberaler gestalten. Das würde allerdings nahelegen, den Anspruch auf Sozialleistungen viel weniger großzügig zu gestalten! Das würde wiederum wahrscheinlich mehr Aufwand für die Polizei erfordern, die also besser auszustatten wäre. Die größere Liberalität hier würde mehr Staat dort erfordern.

Nichts von dem Gesagten ist neu. Es sollte nochmals klar werden, dass an Migrant und Flüchtling verschiedene Korrektheitsbedingungen geknüpft sind. Man vergleiche etwa mit Greifvogel und Seeadler. Alle Seeadler sind Greifvögel, aber nicht alle Greifvögel sind Seeadler. Will man mit Seeadler zu verstehen geben, dass man sich allgemeiner auf Greifvögel bezieht, ist die Referenz unkorrekt. Was Migrant und Flüchtling betrifft, ist zweifellos – insbesondere nach 2015 im Zuge der so gen. Willkommenskultur – v.a. journalistisch ein Diskurs etabliert worden, der Flüchtling im Sinne des allgemeineren Migrant verwendet. Und das ist eine demokratiegefährdende Sache. Denn die Freiheit und die Sachorientiertheit eines Diskurses hängen auch davon ab, dass Ausdrücke in ihm konventionell, also nach schon länger geltenden, etablierten, Regeln verwendet werden. Bei Kritik an dem so gut gemeinten Willkommensdiskurs handelt es sich nicht um Wortklauberei. Vielmehr wird man Flüchtlingen andere Ansprüche zugestehen als anderen Migranten.

Würde Professor Scharloth in dieser Einschätzung des Diskurses eine ‚politische Korrektheit von rechts‘ vermuten? Politische Korrektheit, die z.B. Zigeuner im Unterschied zu Sinti ächtet, ist v.a. moralisch motiviert: Jemand soll nicht abgewertet werden. Bei der hier erläuterten Einschätzung des Gebrauchs von Flüchtling im Zuge der Willkommenskultur handelt es sich jedoch um die Feststellung eines Mangels an Korrektheit, nicht politischer Korrektheit. Ein Anspruch an der vermissten Korrektheit, semantischen Korrektheit, ist erforderlich für einen Wahrheitsanspruch. Wenn Prof. Scharloth den Anspruch an Korrektheit in diesem Sinne für ‚politische Korrektheit von rechts‘ hält, liegt er falsch. Wenn nicht, dann vermisse ich ein entsprechendes Engagement aufzuklären. Der Willkommensjargon braucht nicht mit politischen Absichten ins Leben gerufen worden zu sein, um doch bestimmen Ideologen ganz recht gewesen zu sein. Wahrheitsanspruch und Diskursfreiheit sind wichtiger.

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Otto Haesler Celle …

Das Spiel mit der größtmöglichen Unaufrichtigkeit

Nochmals wird von politischer Seite in Celle versucht, Otto Haeslers Wirken während des Nationalsozialismus zum Thema zu machen (https://celler-presse.de/2021/01/24/fraktion-zukunft-celle-fragt-nach-otto-haeslers-vermaechtnis/ ). Bekannt ist aber schon sehr lange, dass Haesler mehr als nur opportunistisch war. Er war zweifellos nicht frei von Antisemitismus – alles andere wäre auch merkwürdig – und versuchte, die ‚Eroberung von Lebensraum im Osten‘ als Architekt und wirtschaftspolitisch mitzugestalten (https://cellediefreieseite.wordpress.com/2016/10/13/zwischen-geschichte-und-geschichten-fern-der-touristischen-idealisierung-am-beispiel-otto-haesler/ ).

Jetzt allerdings wollen alle selbstverständlich immer zur Aufklärung haben beitragen wollen. Besonders engagiert hat sich dabei keine Seite. (Mein eigener Hinweis auf längst Bekanntes war in letzter Zeit vielleicht nicht unerheblich.*) Sogar alte Linke hielten mir gegenüber den Fall Haesler für belanglos. Doch Auschwitz wäre gerade ohne das Engagement vieler bei der Ausgestaltung wirtschafts- und eroberungspolitischer Details nicht möglich gewesen.

Wie kommt es, dass man sich mit Bezug auf Otto Haesler beim Nationalsozialismus immer noch so schwer tut?

a) Zum einen hat die Stadt Celle Otto Haesler erst relativ spät entdeckt. Zum Beispiel der Celler Zündel war früher. Dabei spielt wohl eine Rolle, dass Haeslers Beitrag zur Moderne damals noch einem Mehrheitsgeschmack widersprach. (Heute hingegen sind als ‚Bauhausvillen‘ verkaufte Häuser der Renner: https://www.google.com/search?q=bauhaus+villa+kaufen&source=lnms&tbm=isch&sa=X&ved=2ahUKEwi-v7PipsvuAhU0EWMBHUtmC3UQ_AUoAnoECAIQBA&biw=1440&bih=786 ) Das Bild, das sich nun gut vermarkten lässt, möchte man ungetrübt in Hochganzlook verkaufen.

b) Zum anderen dürfte in den Hinterköpfen vieler Menschen Haesler pars pro toto für etwas stehen, was vage mit ‚Progressivität‘ assoziiert ist. Und in diesen Bereich gehören typisch ‚linke‘ Projekte, die mit sozialem Engagement zu tun haben. Tatsächlich geisterte noch in den Achtzigerjahren das Gerücht herum, Haesler sei Sympathisant der Kommunisten gewesen. Ich meine, dass Gertrud Schröter (https://www.neues-deutschland.de/artikel/778785.nachruf-auf-eine-landesverraeterin.html ) mir einmal sagte, er sei in ihrem Elternhaus häufig Gast gewesen. Und aufgrund derartiger Assoziationen wurde lange die Nähe klassisch moderner Architektur zu Totalitarismen mehr oder weniger ignoriert (vgl. Barbara Miller Lane: Architektur und Politik in Deutschland 1918–1945 https://www.springer.com/de/book/9783528087074 ), obwohl ein Teil dessen, was diese Nähe motivierte, klar ist: das Glück der Massen möglichst effizient planen. Die weißen Flachdachkuben der klassischen Moderne spiegelten diese Idee wider, und zwar eher symbolisch als funktionell. Haesler in Celle steht exemplarisch dafür – und das steht scheinbar in Widerspruch zu Nationalsozialismus.

Als Aufgabe bleibender ist, so flächensparend wie möglich für so viele Menschen wie möglich zu bauen. Und zwar diesmal aus anderen Gründen als in der Zeit der Klassischen Moderne: https://de.wikipedia.org/wiki/Fl%C3%A4chenversiegelung . Gerade in dieser Hinsicht, nicht aus stilistischen Gründen, sind die Siedlungen Georgsgarten und Blumläger Feld heute von mehr als historischem Interesse.

Otto Haesler – das Blumläger Feld bald ein teures Denkmal der Sparsamkeit?

Zwischen Seriosität und Wahrheitsanspruch*

Nachtrag 21.10.23:

Was sind eigentlich ‚Schlichtwohnungen‘?

Googeln führte mich zu

https://www.weser-kurier.de/bremen/der-abriss-rueckt-naeher-doc7e3a9hqpclv10gr1a16h

Selbst diese abgerissene Siedlung (Baujahr 1926) weist interessante zeittypische Gestaltungsmerkmale auf. Besonders sichtbar hier:

https://taz.de/Bremer-Mieter-kaempfen-gegen-Abriss/!5374477/

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blumläger feld 6.1.19 mein Garten

Mein ehemaliger Garten, Vogelsang 7

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